30 Kilometer tief sind türkische Truppen bereits in Nordsyrien vorgedrungen, Zehntausende haben die Flucht ergriffen. Kanzlerin Merkel fordert eine "umgehende Beendigung" der Offensive. Präsident Erdogan zeigt sich von Strafmaßnahmen der Europäer unbeeindruckt.
Berlin/Ankara/Damaskus (dpa) - Angesichts erbitterter Gefechte der türkischen Armee mit Kurdenmilizen in Syrien hat Bundeskanzlerin Angela Merkel den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zum sofortigen Stopp der Militäroffensive aufgefordert.
Die Kanzlerin habe sich am Sonntag in einem Telefonat mit Erdogan für eine "umgehende Beendigung der Militäroperation" ausgesprochen, teilte eine Regierungssprecherin mit.
Als Reaktion auf den Einmarsch stoppte Deutschland seine Rüstungsexporte an den Nato-Partner teilweise. Auch EU-Sanktionen gegen die Türkei schienen am Sonntag möglich. Die USA ziehen derweil weiter Soldaten aus dem Gebiet zurück, in das die Türken vordringen. Die syrische Regierung schickt nun dagegen Truppen in die Region. Die syrische Armee werde im Norden der "türkischen Aggression auf syrischem Boden entgegentreten", berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Sana am Sonntag, ohne Details zu nennen.
Merkel warnte Erdogan, dass die Offensive ungeachtet berechtigter türkischer Sicherheitsinteressen zur Vertreibung größerer Teile der lokalen Bevölkerung führen könnte. Zudem drohten eine Destabilisierung der Region und ein Wiedererstarken der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte teilte mit, rund 780 IS-Unterstützer seien nach Beschuss durch mit der türkischen Armee verbundenen Milizen aus dem Lager Ain Issa ausgebrochen. Anwohner berichteten der Deutschen Presse-Agentur, dass einige von ihnen sich auf den Weg nach Al-Rakka gemacht hätten, der früheren Hochburg des IS. Erdogan bezeichnete Berichte über den Ausbruch als "Desinformation".
Rund 130.000 Menschen wurden laut UN-Angaben seit Beginn der Offensive am Mittwoch vertrieben. Im Fokus der Kämpfe standen am Sonntag die syrischen Grenzstädte Ras al-Ain und Tall Abjad.
Mögliche EU-Sanktionen gegen die Türkei sollen am Montag Thema bei einem Außenministertreffen in Luxemburg und am Donnerstag beim EU-Gipfel in Brüssel Thema werden. Schweden hatte sich am Freitag für ein EU-weites Waffenembargo gegen die Türkei ausgesprochen und Wirtschaftssanktionen sowie Strafmaßnahmen gegen Einzelpersonen ins Gespräch gebracht. Auch die französische Regierung warf das Thema Sanktionen auf. Die USA behält sich Sanktionen ebenfalls weiterhin vor. Diese könnten klein starten oder von maximalem Druck sein, was die türkische Wirtschaft zerstören würde, sagte US-Finanzminister Steven Mnuchin dem Sender ABC.
US-Präsident Trump ordnete allerdings den Rückzug weiterer Soldaten aus dem Konfliktgebiet an. Es bestehe die Gefahr, dass die USA zwischen zwei sich gegenüberstehende Armeen gerieten, sagte Verteidigungsminister Mark Esper dem TV-Sender CBS. Das sei eine "sehr unhaltbare" Lage. Washington wolle sicherstellen, dass keine amerikanischen Soldaten verletzt oder getötet würden. Es würden weniger als 1000 US-Soldaten abgezogen, sagte Esper Fox News. Einen Zeitplan dafür gebe es nicht.
Aus dem unmittelbaren Gebiet der türkischen Offensive, die seit Mittwoch läuft, hatten die USA vergangene Woche rund 50 Soldaten abgezogen. Mit dem Schritt machten sie faktisch den Weg frei für Erdogans Einsatz. Trump hatte für diese Entscheidung scharfe Kritik auch aus seinen eigenen Reihen kassiert.
Bundesaußenminister Heiko Mass gab am Wochenende bekannt, dass keine Lieferungen von Waffen mehr genehmigt würden, die in Syrien eingesetzt werden könnten. Der Opposition geht das nicht weit genug. Grüne und Linke fordern einen kompletten Ausfuhrstopp für Rüstungsgüter und zudem Wirtschaftssanktionen. Frankreich schränkte ebenfalls seine Rüstungsexporte in die Türkei ein. Schweden, die Niederlande, Finnland und Norwegen hatten dies schon zuvor getan.
Erdogan zeigte sich davon unbeeindruckt. Wer glaube, die Türkei werde wegen Wirtschaftssanktionen oder Waffenembargos von ihrem Weg abweichen, irre sich, sagte Erdogan am Sonntag. Die Türkei sei ein Nato-Partner und die Kurdemiliz YPG, gegen die die Offensive läuft, eine "Terrororganisation".
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu drohte im Interview der Deutschen Welle erneut damit, Millionen syrische Flüchtlinge aus der Türkei über die Grenze nach Europa zu lassen: "Natürlich liegt diese Option auf dem Tisch."
Die Türkei hatte am Mittwoch mit Unterstützung arabisch-syrischer Rebellen eine Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG begonnen, die auf syrischer Seite der Grenze ein großes Gebiet beherrscht. Die Türkei sieht in ihr einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. .
Die humanitäre Lage in dem Gebiet verschärfte sich weiter. Das UN-Nothilfeprogramm Ocha berichtete, schätzungsweise 130 000 Menschen seien seit Beginn der Kämpfe vertrieben worden. Im Ort Al-Hassaka, in den die Mehrzahl der Menschen geflüchtet sei, habe sich die Wasserversorgung dramatisch verschlechtert. Davon seien etwa 400 000 Menschen betroffen. Das Verteidigungsministerium in Moskau als Verbündeter Syriens warnte vor einer humanitären Katastrophe.
Die türkische Armee und verbündete Rebellen lieferten sich am Sonntag heftige Gefechte mit der YPG. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete, dass die von der YPG angeführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) die meisten Stadtteile der Grenzstadt Ras al-Ain nach einem türkischen Einmarsch zurückerobert hätten. Die Stadt liegt entlang einer wichtigen Versorgungsroute zwischen Tall Abjad im Westen und der Stadt Kamischli im Osten. Erdogan sagte dagegen, das Zentrum der Stadt sei unter türkischer Kontrolle.
Auch in Tall Abjad kam es zu schweren Gefechten. Nach Angaben von Aktivisten nahmen die türkische Armee und verbündete Rebellen die Stadt am Sonntag ein. Sie sei fast vollständig unter Kontrolle der Türkei, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte. Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu meldete die vollständige Einnahme des Stadtzentrums.
Das Verteidigungsministerium in Ankara teilte auf Twitter mit, die Truppen seien 30 bis 35 Kilometer tief in Syrien eingedrungen und hätten die Schnellstraße M-4 unter ihre Kontrolle gebracht. Die taktisch wichtige Straße durchquert Nordostsyrien.
Über die Zahl der Opfer gab es stark widersprüchliche Angaben. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in London meldete, seit Beginn der Kämpfe seien mindestens 52 Zivilisten getötet worden. Die Aktivisten erklärten zudem am Sonntag, dass seitdem mehr als 100 Kämpfer in Reihen der SDF und mehr als 70 Kämpfer der mit der Türkei verbündeten Milizen sowie acht türkische Soldaten ums Leben gekommen seien.
Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden dagegen lediglich zwei Soldaten bei dem Militäreinsatz getötet. Auch sonst weichen die Angaben stark ab: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Sonntag, 440 YPG-Kämpfer seien getötet, 26 verletzt und 24 Gefangen genommen worden. Zudem seien 18 türkische Staatsbürger getötet und 147 weitere verletzt worden.